Politik (2014)

Bundeskanzleramt

Der BigBrotherAward 2014 in der Kategorie Politik geht an das Bundeskanzleramt für geheimdienstliche Verstrickungen in den NSA-Überwachungsskandal sowie unterlassene Abwehr- und Schutzmaßnahmen. Dem Bundeskanzleramt obliegen die oberste Fachaufsicht über den Auslandsgeheimdienst BND sowie die Kooperation der drei Bundesgeheimdienste untereinander und mit anderen Dienststellen im In- und Ausland. Die bundesdeutschen Geheimdienste arbeiten eng mit dem völker- und menschenrechtswidrig agierenden US-Geheimdienst NSA und anderen Diensten zusammen. BND und Bundesamt für Verfassungsschutz sind an Überwachungsinstrumenten, Spähprogrammen und Infrastrukturen der NSA beteiligt. Alte wie neue Bundesregierung haben mit Massenausforschung und Digitalspionage verbundene Straftaten und Bürgerrechtsverstöße nicht abgewehrt: Sie haben es sträflich unterlassen, die Bundesbürger und von Wirtschaftsspionage betroffene Betriebe vor weiteren feindlichen Attacken zu schützen.
Laudator.in:
Portraitaufnahme von Rolf Gössner.
Dr. Rolf Gössner, Internationale Liga für Menschenrechte (ILFM)

Der BigBrotherAward 2014 in der Kategorie Politik geht an das Bundeskanzleramt, vertreten durch die Hausherrin, Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel (CDU), den Bundeskanzleramtschef und Beauftragten für die Nachrichtendienste, Peter Altmaier (CDU), den Staatssekretär für Nachrichtendienst-Angelegenheiten, Klaus-Dieter Fritsche (CSU) sowie den Geheimdienstkoordinator Günter Heiß, dafür, dass

1. die bundesdeutschen Geheimdienste eng mit dem völker- und menschenrechtswidrig agierenden US-Geheimdienst NSA und anderen Diensten des „Echelon“-Geheimverbunds der „Five-eyes“ kooperieren,

2. dafür, dass der dem Bundeskanzleramt unterstehende Bundesnachrichtendienst (BND) und das Bundesamt für Verfassungsschutz an Überwachungsinstrumenten, Spähprogrammen und Infrastrukturen der NSA beteiligt sind und

3. dafür, dass sowohl die alte als auch die neue Bundesregierung es sträflich unterlassen haben, mit Massenausforschung und Digitalspionage verbundene Straftaten, Verfassungs- und Bürgerrechtsverstöße abzuwehren und die Bundesbürger sowie von Wirtschaftsspionage betroffene Betriebe vor weiteren feindlichen Attacken zu schützen.

Im Kern geht es also um bundesdeutsche Verstrickungen in den NSA-Überwachungs­skandal sowie um unterlassene Abwehr- und Schutzmaßnahmen. Mitte 2013 ist die flächendeckende verdachtsunabhängige Ausforschung der globalen Telekommunikation durch den US-Geheimdienst NSA (National Security Agency) und den britischen Geheimdienst GCHQ (Government Communications Headquarters) bekannt geworden. Die historisch einmaligen Enthüllungen basieren auf Geheimdokumenten, die der Ex-NSA-Mitarbeiter und Whistleblower Edward Snowden öffentlich machen ließ. Snowden spricht von der „größten verdachtsunabhängigen Überwachung in der Geschichte der Menschheit“. Diese digitale Durchleuchtung der Privatsphäre ganzer Gesellschaften stellt alle Menschen, die auf irgendeine Art elektronisch kommunizieren, unter Generalverdacht, unterhöhlt die Unschuldsvermutung, führt zur Verletzung von Persönlichkeitsrechten und stellt verbriefte Grundrechte, ja die Demokratie insgesamt in Frage.

Nach und nach stellte sich heraus, dass nicht allein US- und britische Geheimdienste in den globalen Überwachungsskandal involviert sind, sondern dass auch bundesdeutsche Geheimdienste – BND, Verfassungsschutz, Militärischer Abschirmdienst – an diesem transatlantischen Geheimverbund partizipieren. Sie profitieren von überlieferten Daten und übermitteln selbst Millionen von Telekommunikationsdaten aus Deutschland – etwa personenbezogene Verbindungs- und Verdachtsdaten, die bei der pauschalen Überwachung und Kontrolle des Fernmeldeverkehrs ins und vom Ausland anfallen.

„Na und?“ fragen sich noch immer viele Menschen: „Wer soll denn diese Massen belangloser Daten überhaupt auswerten? Was kann mir schon passieren?“ Leider zu kurz gedacht, denn die dokumentierbaren Folgen können heftig sein: Am Ende solcher Datenerfassungen und -auswertungen kann etwa eine verweigerte Einreise in die USA stehen, wie im Fall des bundesdeutschen Schriftstellers Ilija Trojanow, der die US-Überwachungsorgie öffentlich kritisiert hatte. Oder aber im Extremfall ein US-Drohnen­beschuss auf „Terrorverdächtige“, wie etwa im Dezember 2013 im Jemen, bei dem 17 Mitglieder eines Hochzeitskonvois ums Leben kamen. Dazwischen ist so manche Unannehmlichkeit, Schikane oder Tortur möglich – von verschärften Grenzverhören, Nachforschungen bei Nachbarn oder Arbeitgebern, über Staatstrojaner im PC, die Aufnahme in US-„No-Fly“- oder Terrorlisten bis hin zu Verhaftungen oder Folter in Spezialgefängnissen. Selbst wer treuherzig glaubt, er habe eigentlich „nichts zu verbergen“, kann plötzlich zum Opfer einer fatalen Verwechslung werden - wie Khaled El Masri, der mit einem „Terroristen“ verwechselt, von CIA-Agenten nach Afghanistan verschleppt und monatelang gefoltert wurde. Oder man ist zur falschen Zeit am falschen Ort wie Murat Kurnaz, der aufgrund von “Verfassungsschutz“-Informationen als angeblicher „Terrorverdächtiger“ für viereinhalb Jahre im US-Foltercamp Guantanamo verschwand.

Spektakuläre Einzelfälle? Sicher, aber es gibt auch viele „kleinere“ Beispiele für üble Folgen des Überwachungswahns. So forschen Geheimagenten deutscher und alliierter Dienste über die BND-Tarnbehörde „Hauptstelle für Befragungswesen“ jährlich Hunderte Flüchtlinge aus oder werben sie als „Quellen“ oder Spitzel an – hier werden schutzsuchende Menschen in akuten Notlagen skrupellos abgeschöpft und für staatliche Zwecke missbraucht.

Nach Informationen von Edward Snowden tauschen deutsche und US-Geheimdienste nicht nur massenhaft Informationen aus, sondern teilen auch Instrumente, gemeinsame Datenbanken (z.B. „Projekt 6“), Spähsoftware wie das XKeyscore-Überwachungspro­gramm und Infrastrukturen – kurzum: Sie gehen „miteinander ins Bett“, so Snowdens bildhafte Worte in seinem ARD-Interview (26.1.14).

Diese enge Kooperation und intensive Datenübermittlungspraxis, die weitgehend ohne Datenschutzkontrolle abläuft, basiert auch auf Geheimverträgen mit den Westalliierten. Diese Verträge räumen den Vertragspartnern Sonderrechte ein, die weite Handlungsfelder eröffnen und stark in Grundrechte der Bundesbürger eingreifen – ohne jede parlamentarisch-demokratische Beteiligung oder Kontrolle. Und sie beschränken die Souveränität Deutschlands bis heute.

Seit Jahren und Jahrzehnten sind die verantwortlichen Bundesregierungen und ihre Nachrichtendienste also Komplizen, Gehilfen, ja Mittäter im großen aggressiven Spiel westlicher Geheimdienste – oder anders formuliert: willfährige Partner. Dabei kommt dem Bundeskanzleramt eine ganz entscheidende Rolle zu, die es heute zu „würdigen“ und negativ auszuzeichnen gilt. Denn dieses Amt ist zentrale Schaltstelle der Bundes­regierungen, ist zuständig für die oberste Fachaufsicht über den Auslandsgeheimdienst BND sowie für Koordination und Intensivierung der Zusammenarbeit aller drei Bundesgeheimdienste untereinander und mit anderen Dienststellen im In- und Ausland.

Wer sich in den vergangenen Monaten verzweifelt die Frage stellte, warum die Bundesregierung den Bürgern und Unternehmen, die von der massenhaften Ausforschung betroffen sind, bis heute jeglichen Schutz verweigert, findet hier eine plausible Antwort: Das auffallend zögerliche Verhalten nach Snowdens Enthüllungen und die geradezu unterwürfige Zurückhaltung gegenüber den USA dürfte mit der engen deutsch-ameri­kanischen Kooperation zu erklären sein; und vor allem damit, dass Deutschland längst integraler Bestandteil der US-Sicherheitsarchitektur und des US-„Kriegs gegen den Terror“ geworden ist. Angesichts bilateraler Geheimabkommen, Partizipation und Duldung völker- und menschenrechtswidriger Strukturen und Aktionen der USA in der Bundesrepublik hält man sich seitens der Bundesregierung offenbar lieber bedeckt, verharmlost und beschwichtigt – zumal man, frei nach Constanze Kurz (CCC), künftig „beim großen Datenroulette“ nicht länger „am Katzentisch sitzen“ will. So plant die aktuelle Große Koalition tatsächlich eine stärkere Zentralisierung und Vernetzung der deutschen Geheimdienste untereinander und auch mit der Polizei – und damit eine Stärkung demokratiewidriger Geheim-Institutionen, die weder transparent noch demokratisch kontrollierbar sind. Und diese „GroKo“ ist auch noch wild entschlossen, mit der erneuten Legalisierung der verdachtslosen Vorratsspeicherung sämtlicher Telekommunikationsdaten der Bevölkerung den Überwachungskosmos hierzulande noch gehörig zu erweitern – anstatt ihn, wie vor dem Hintergrund der NSA-Massenausforschung dringend geboten, endlich wirksam einzuschränken.

Verharmlosen, beschwichtigen und ignorieren - diese regierungsamtliche Scheinreaktion auf die beunruhigende NSA-Affäre hat einen Namen: Pofalla, Ronald (CDU) - bis Ende 2013 amtierender Chef des Bundeskanzleramts, zugleich Beauftragter für die Nachrichtendienste und oberster Aufseher des BND.

Als die NSA-Affäre im Juni 2013 für Aufsehen sorgte, da duckte sich der unmittelbar zuständige Pofalla erstmal weg und schwieg. Niemand hat von ihm je einen erhellenden Beitrag zur Rechtmäßigkeit der millionenfachen Auswertung von Telekommunikationsdaten durch die US-Geheimdienste und zur Rolle des BND vernommen. Im Gegenteil: Er bezifferte die Weitergabe von Informationen über deutsche Staatsbürger an US-Geheimdienste auf ganze zwei Datensätze, obwohl es nachweislich Hunderte waren. Später erklärte er ungeachtet weiterer Enthüllungen die NSA-Affäre für beendet: Alle gegen die Geheimdienste erhobenen Vorwürfe seien „vom Tisch“ und millionenfache Grundrechtsverletzung habe es in Deutschland nie gegeben. Vielmehr hätten ihm die beteiligten Dienste schriftlich versichert, sich an deutsches Recht zu halten. Für diese herausragenden „Vermauschel-Dienste“ verlieh die NDR-Satiresendung Extra3 Pofalla den Negativpreis „Silberner Hilfssheriff-Stern“, den er allerdings vor laufender Kamera verweigerte – womöglich hatte er ja insgeheim einen goldenen Hilfsagenten-Orden erwartet. Oder gleich den BigBrotherAward. Solche Männer braucht … die Deutsche Bahn … bekanntlich ihrerseits Trägerin eines BigBrotherAwards …

Und Pofallas Chefin, die Hausherrin des Bundeskanzleramts? Was unternahm eigent­lich Frau Merkel angesichts der eskalierenden Überwachungsaffäre? Kurze Antwort: so gut wie nichts! Und dabei hat sie doch schon dreimal Stein und Bein ge­schworen, ihre „Kraft dem Wohle des deutschen Volkes“ zu widmen, seinen Nutzen zu mehren, Schaden von ihm zu wenden, das Grundgesetz und die Gesetze des Bundes zu wahren und zu verteidigen und ihre Pflichten gewissenhaft zu erfüllen.

Stattdessen zog Frau Merkel den Kopf zwischen die Schultern und verwies auf ihren profunden Pofalla, der die Affäre Mitte August 2013 für beendet erklärte; danach verwies sie auf ihren damaligen CSU-Innenminister Hans-Peter Friedrich, der die Affäre wenige Tage später ebenfalls für beendet erklärte. O-Ton Friedrich: „Alle Verdächtigungen, die erhoben wurden, sind ausgeräumt.“ Auch er sah keinen Grund, daran zu zweifeln, dass sich die USA an Recht und Gesetz hielten. Von einem Kurztrip in die USA zur Aufklärung der NSA-Affäre kehrte er zufrieden mit der Mär zurück, er habe die Vorgänge geklärt. Bei der Snowden-Affäre handele es sich ohnehin um „falsche Behauptungen und Verdächtigungen, die sich in Luft aufgelöst haben (…) Wir können sehr zufrieden und auch sehr stolz darauf sein, dass unsere Nachrichtendienste bei unseren Verbündeten als leistungsfähige, bewährte und vertrauenswürdige Partner gelten“ (16.08.13). Und zum Abschluss bescheinigt Friedrich NSA-Kritikern eine „Mischung aus Antiamerika­nismus und Naivität“, die ihm „gewaltig auf den Senkel“ gehe. Was durchaus auf Gegenseitigkeit beruht, haben wir ihn doch schon 2012 mit dem BigBrotherAward bedacht. Leider ohne Erfolg: Zur Rechtfertigung der NSA-Massen­überwachung hat dieser Bundesinnenminister, der zugleich Verfassungsmi­nister war, ein so genanntes „Supergrundrecht auf Sicherheit“ frei erfunden, dem er verbriefte Grund- und Freiheitsrechte kurzerhand unterordnen zu können glaubt.

Erst als im Oktober 2013 bekannt wurde, dass die NSA schon jahrelang ein Mobiltelefon der Kanzlerin gezielt abhört, da äußerte sich Ronald Pofalla plötzlich wieder und diesmal empört – jetzt sprach er von einem „schweren Vertrauensbruch“ seitens der USA. Ihren Regie­rungssprecher ließ die Kanzlerin erbost von einer „völlig neuen Qualität“ faseln, denn: „Abhören von Freunden, das geht gar nicht“. Also: Nicht die massenhafte Ausspähung der Bevölkerung, nicht die Sorge um deren Schutz, sondern erst dieser unfreundliche Angriff auf das Handy der Kanzlerin führte endlich zu schärferen Reak­tionen gegenüber den Auftraggebern im Weißen Haus. Und, ganz nebenbei, geriet mal wieder unser Inlandsgeheimdienst „Verfassungsschutz“ unter Druck, zu dessen Kernaufgaben die Spionageabwehr gehört: Denn von den Spionageaktionen gegen die Kanzlerin hatte er offenbar nichts mitbekommen, geschweige denn, diese Lauschangriffe verhindert.

Und sage noch eine oder einer, die Bundesregierung hätte doch gar nichts gegen die feindlichen Attacken auf Privat-, Betriebs- und Regierungssphäre unternehmen können, nachdem doch schon das öffentlichkeitswirksam zelebrierte No-Spy-Abkommen mit den USA von Anfang an zum Scheitern verurteilt war. Doch, die Regierung könnte vom Verfassungsschutz enttarnte Abhör-Agenten in US- und anderen Botschaften, von deren Gelände aus politische Institutionen ausgeforscht werden, zu unerwünschten Personen erklären und des Landes verweisen. Sie könnte im Fall möglicher Grundrechtsverletzungen zu Lasten von Bundesbürgern militärische US-Liegenschaften durch deutsche Sicherheitsbehörden kontrollieren lassen – etwa den weiteren Bau eines NSA-Abhörzentrums auf dem US-Stützpunkt in Wiesbaden oder das Africom-Regionalkommando der US-Streitkräfte in Stuttgart, das Luftangriffe, Kampfdrohnen-Einsätze, Verschleppungen und extralegale Hinrichtungen von Terrorverdächtigen in Afrika plant(e). Und die Bundesregierung könnte Geheimverträge offen legen und revidieren. Weshalb sie und die Ermittlungsbehörden insoweit untätig geblieben sind, ist nicht nachvollziehbar und dürfte an Verfassungsbruch grenzen.

Deshalb sahen sich Internationale Liga für Menschenrechte, Digitalcourage und ChaosComputerClub Anfang Februar 2014 gezwungen, beim Generalbundesanwalt Strafanzeige gegen die involvierten Geheimdienste und die Bundesregierung zu erstatten, um die politisch und strafrechtlich Mitverantwortlichen endlich zur Rechenschaft zu ziehen. Es war ein Akt der Notwehr und Nothilfe, der wie ein Ventil wirkte, das plötzlich geöffnet wird: Tausende haben uns geschrieben und die Strafanzeige unterstützt. Ja, und heute öffnen wir ein weiteres Ventil …

Herzlichen Glückwunsch zum BigBrotherAward 2014, Bundeskanzleramt.

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Laudator.in

Portraitaufnahme von Rolf Gössner.
Dr. Rolf Gössner, Internationale Liga für Menschenrechte (ILFM)

Über die BigBrotherAwards

Spannend, unterhaltsam und gut verständlich wird dieser Datenschutz-Negativpreis an Firmen, Organisationen und Politiker.innen verliehen. Die BigBrotherAwards prämieren Datensünder in Wirtschaft und Politik und wurden deshalb von Le Monde „Oscars für Datenkraken“ genannt.

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BigBrotherAwards International

Die BigBrotherAwards sind ein internationales Projekt: In bisher 19 Ländern wurden fragwürdige Praktiken mit diesen Preisen ausgezeichnet.